No Turning back – Kritik

Steven Knight schickt Tom Hardy auf die Straße von Birmingham nach London – und auf 85 nervenzerrende Filmminuten.

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Wenn der Abspann einsetzt, ist man froh, es überstanden zu haben. Das meine ich als Kompliment: Lange schon wurde ich im Kino nicht mehr derart in Mitleidenschaft gezogen wie von der lebensumwälzenden Stresssituation, in die sich Ivan Locke (Tom Hardy) bei seiner nächtlichen Autofahrt von Birmingham nach London begibt, lange schon hat mich die Empathie für eine Filmfigur nicht mehr in solche körperliche Spannung versetzt wie in No Turning Back (im Original: Locke), dem neuen Film von Steven Knight (u.a. Autor von Tödliche Versprechen).

Ein-Personen-Stück und Ensemblefilm zugleich

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85 Minuten lang ein Mann im Auto: Der Film reiht sich ein unter die Ein-Personen-Stücke, die in den letzten Jahren öfter im Kino auftauchen, Buried – Lebendig begraben (2010), All is Lost (2013), mit kleinen Abstrichen Gravity (2012). Doch anders als dem Segler, der Astronautin und dem Mann im Sarg geht es Ivan Locke nicht darum, aus einer lebensfeindlichen Umgebung in die Zivilisation zurückzukehren. Seine existenzielle Grenzerfahrung liegt nicht in der Abtrennung von der menschlichen Gesellschaft begründet, sondern in seiner unentrinnbaren Verstrickung mit ihr. Der Autobahn sind im Bluetooth-Zeitalter alle Reste eines Freiheitsortes und Fluchtwegs ausgetrieben, die zeitlose Geschichte über die Last von Verantwortung und die Tragweite von Entscheidungen erscheint in No Turning Back in zeitgemäß vernetztem Gewand: Auch wenn es um ihn herum immer einsamer wird, ist Ivan Locke kaum einen Moment alleine. Er telefoniert die ganze Zeit mit den diversen Baustellen seines Lebens, inkompatible soziale Räume, die alle schon für sich aus den Fugen geraten und die er doch alle im Griff behalten will.

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Hinter ihm liegt die Großbaustelle, die er als Bauleiter im Stich lässt – es ist der größte und wichtigste Auftrag seine Karriere –, und das Haus seiner Familie, in das er heute nicht zurückkehrt. Vor ihm liegt eine Londoner Klinik, wo er einer Frau, die ihm nichts bedeutet, bei der Geburt ihres gemeinsamen Kindes beistehen will. Sichtbar werden die Anrufer nur als Buchstaben im Display – Nicknames wie „Bastard“ oder „Home“ werden mit jedem Aufleuchten zu gemeineren Kommentaren –, und doch wird die Fahrkabine zum Setting eines vielstimmigen Ensemblefilms. Die Reaktionen auf Ivans Entscheidung sind heftig und fatal. Ob seine Frau oder seine Kinder, sein Vorgesetzter oder der Assistent, den er für den Auftrag einweisen will – kaum eine Stimme ist darunter, die nicht außer Fassung gerät. Als stummer Ansprechpartner, ein mattes Glimmen von der Rückbank, kommt noch sein toter Vater hinzu, der sich in Ivans Kindheit aus der Verantwortung stahl und nun der Hauptgrund für sein Handeln ist.

Endloser Strom der Autobahn

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Während also mehrere Orte im Off zu Schauplätzen dramatischer Handlung werden, scheint der einzige sichtbare Raum narrativ fast nebensächlich. Umso präsenter ist die nächtliche Autobahn als symbolischer wie als Stimmungsraum. Die Vorwärtsbewegung auf der Straße als Bild für die unumkehrbare Ereigniskette zeigt, dass eine Metapher nicht zwingend originell sein muss, um schlüssig zu sein (dasselbe gilt, auf verbaler Ebene, für das gewaltige Gebäude, das beim kleinsten Fehler im Betonfundament einstürzen kann). Ganz intensiv eingefangen ist in No Turning Back die Stimmung nächtlicher Autobahnfahrten, die Rücklichterkolonne, die sich vor dir her bewegt, die LKW-Silhouetten, die du beim Überholen hinter dir lässt, die vorbeiziehenden Schilder mit den schrumpfenden Entfernungsangaben, diese eigentümliche Aura aus gleichmütiger Ruhe und abweisendem Desinteresse, mit der dieser endlose Strom dich geschmeidig eingliedert, stumm akzeptiert und zugleich völlig isoliert lässt, allein mit deinem Leben.

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Kameramann Haris Zambarloukos und die exzessiv mit Überblendungen arbeitende Cutterin Justine Wright fangen Tom Hardy am Steuer mal von rechts, mal von links ein, verschmelzen und kontrastieren sein Gesicht mit dem leuchtenden Verkehrsfluss, und beides mit den Spiegelungen auf den Oberflächen des Autos, springen hin und her zwischen Vorder-, Heck- und Seitenfenster, Innen- und Außenspiegel, treiben Scheinwerferketten vorwärts und rückwärts gegeneinander, abstrahieren sie zum Formenspiel tanzender gelber Kreise, um sie in der nächsten Scharfeinstellung wieder auf dem Asphalt zu erden. Entgegen dem vorwärtstreibenden Drehbuch ist diese Rauminszenierung eher kreisend, wie ein unbehelligt mitlaufender Kommentar, doch findet beides immer wieder markante Schnittstellen, wenn etwa Hardys Gesicht beim Satz „Ich komme nicht nach Hause“ in einer Mehrfachbelichtung transparent wird bis an den Rand der Auflösung.

Ein Glücksfall fürs Kino

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Eindrucksvoll und bewegend ist es, wie Tom Hardy Lockes Körper auf all die ungeheuren Forderungen, die an ihm zerren, reagieren lässt, wie sein müdes, gefasstes Gesicht Schatten des Zorns und der Verzweiflung streifen, wie seiner sonoren, warmen Stimme, die alle anderen beruhigen will und sich selbst zur Ruhe zwingt, manchmal die Selbstüberzeugungskraft abhanden kommt. Ein Naseputzen wird zum Schwächeanfall, die ersten Tränenschimmer zu Vorboten der Kapitulation. Und wenn sich in den Willen dieses redlichen Mannes, es allen recht und alles richtig zu machen, zuletzt auch ein Anflug von Hochmut schleicht, die Anmaßung, alles unter Kontrolle zu behalten, um dem Selbstbild gerecht zu werden, dann macht das diese Figur eher noch nahbarer und menschlicher.

„Minimalismus“ ist ein merkwürdiges Schlagwort für einen Film, auf dem auf narrativer, visueller, akustischer und metaphorischer Ebene so viel los ist wie in No Turning Back. Präzision und Konzentration passen schon eher als Beschreibung der Art und Weise, wie der Film all diese Elemente zu einem aufwühlenden Ganzen bündelt. Nicht nur Erzählzeit und erzählte Zeit setzt No Turning Back fast bruchlos in eins, das Verhältnis von Inhalt und Form im Ganzen ist dergestalt, dass eine Unterscheidung – oder gar eine Parteinahme für eins von beiden – kaum nötig ist. Und bei aller Spannung, die einen in den Sitz fesselt, bietet sich die klare und schöne Komposition des Films schon im Erfahrungsmoment der reflektierenden Betrachtung an. Ein Glücksfall fürs Kino.

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Kommentare


Michi

Deine Kritik hat es wirklich geschafft, mich für LOCKE zu begeistern, obwohl ich ihn schon gesehen habe und er mich nicht so begeistern konnte, wie er es scheinbar bei dir erreicht hat. Wirklich toll geschrieben, auch wenn ich dir inhaltlich nicht ganz zustimmen kann.
Aufgrund des Trailers, bzw. des gesamten Konzepts, bin ich sehr hoffnungsvoll ins Kino gegangen und war für alles offen. Letztendlich konnte mich das Drehbuch nicht ganz überzeugen und die Kamera, die du so lobend hervorhebst, hat mich eher gelangweilt. Insgesamt gesehen, kann ich den Film für seine Ansätze wertschätzen, aber persönlich spricht er mich leider wenig an.
Es ist aber toll zu sehen, wie unterschiedlich LOCKE wahrgenommen wird und immer wieder andere Aspekte gelobt werden. Ich würde mir auf jeden Fall wünschen, dass der Film bei einer Zweitsichtung einen ähnlichen Effekt erzielt, wie du ihn hier beschreibst.


styx

Diesen Film zu sehen empfand ich als «Glücksfall». Die Kritik sehr zutreffend.


friedundfromm

Haruki Murakami wagt in Gefährliche Geliebte einen Vergleich von Identität und Zement: „Wenn erst einmal eine gewisse Zeit vergangen ist, verhärten sich die Dinge. Wie Zement, der in einem Eimer hart wird. Und wir können dann nicht mehr zurück. Was du sagen willst, ist, dass der Zement, aus dem du bestehst, inzwischen hart geworden ist, so dass das Du, das du jetzt bist, niemand anders mehr sein kann.“






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